In Memoriam
„Wer ist Erwin“, fragt die Mondgöttin, als sie erfährt, dass der specksteinerne Vogel alle Tiere, die das Leben ihrer Menschin ein Stück begleitetet haben, symbolisiert.
„Eine Amsel.“ Unabhängig von der Jahreszeit fütterte Gerhard Meisen, Rotkehlchen, Spatzen und andere Wildvögel in seinem Garten, wobei ihm einer auffiel, den er für besonders treu hielt. Er nannte ihn Erwin. Ob es tatsächlich um stets den selben Vogel handelte, der zu einer bestimmten Uhrzeit geradezu um Futter zu betteln schien, ist nicht von Belang. Die Mondgöttin klettert umständlich auf das futonartige Bett und lässt sich schwer in die Daunen fallen.
„Erzähl mir von deinen Tieren“, bittet sie die Frau und schlägt die Vorderpfoten elegant übereinander. Sie ist sich ihrer Bedeutung bewusst.
„Warum willst du über längst Dahingeschiedene schreiben? Reicht es nicht, dass im Prozess des Schaffens dieses steinernen Gesellen du Ihrer gedachtest - und noch immer Ihrer gedenkst - im Anblick des Ergebnisses?“, setzt sie etwas geschraubt nach.
„Externalisierung ungeliebter Gefühle nennt man das. Kann es sein“, fährt sie fort mit Unschuldslammesmine, „dass du einem Unbehagen begegnen willst, weil es unbequem und schmerzhaft ist, egal, wie viel Zeit vergangen ist?“
Die Mixin ermuntert ihre menschliche Gefährtin zu erzählen und sich selbst zu vergeben, indem sie zuhört, ohne Gehörtes zu bewerten, mit Wohlwollen und gleichschwebender Aufmerksamkeit. Wie Max Hirtberg. Zwölf Jahre nach Ende der Behandlung fällt es der Frau etwas leichter zu akzeptieren, dass nicht Hirtberg als Analytiker, als Mensch, geschweige denn als Mann ihr die ganze Welt bedeutet hat: Ein Teil ihrer selbst war damals schon Hirtberg - und ist es bis in die Gegenwart hinein geblieben. Diesen Teil ihrer selbst projiziert die Frau auf ihre Mondgöttin. In den zurückliegenden elf Jahren haben die beiden ihr Setting Schritt für Schritt entwickelt und perfektioniert.
„Mach dir keine Sorgen, du überforderst mich nicht“, beruhigt die Hündin ihr Frauchen und erkundigt sich im gleichen Atemzug danach, warum Erwin seinen Platz ausgerechnet unter dem Wandelröschen auf der letzten Ruhestätte des Vaters finden soll.
Die Frau spürt gleichermaßen Widerstand und Wollen in diesem zähen Ringen um den Durchbruch ihrer Schreibblockade. Eine prokrastinationsbedingte Depression gilt es unbedingt abzuwenden.
Gerhard war es, der die Frau als Mädchen mit Haustieren in Kontakt brachte. Es begann mit zwei, vielleicht drei aufeinanderfolgenden griechischen Landschildköten. Sie stammten von Pfaff, einer Zoohandlung in der Stadt; und sie alle trugen den Namen Olga, so wie die wenig später, ebenfalls sukzessive, erworbenen Goldhamster den Namen Flocki. Bilder im Kopf, die Schildkröte im Erdbeerfeld, in dem sie schließlich verloren ging, der Hamster tot in einer zum Sarg umfunktionierten Kuchenform aus Aluminium, zum Begräbnis in papiernen Servietten aufgebahrt. Dietlinde hat dafür gesorgt.
Der Druck auf der Brust, die Beklemmung im Magen verstärken sich bei dem Gedanken an die unbedachte, aus Überforderung und persönlicher Unreife resultierende Fortgabe des Wellsittichs Kocki an einen gewissen Bernhard Schneider, einen Kumpel aus der Nachbarschaft, dessen schwarzer Lorbas das Mädchen gebissen hatte, als es neun oder zehn Jahre alt war. Er wohnte schräg hinter dem Erdbeerfeld.
Seit mehr als zwei Monaten blockiert die Frau sich selbst in ihrem verzweifelten Ringen um Vergebung. Wie besessen und trotz des Wissens, dass weder die Vergangenheit ungeschehen, noch die Auseinandersetzung mit dieser ihrer Gemütsverfassung zuträglich ist, bohrt sie sich in diese Geschichte. Kein Loslassen, kein Entrinnen, kein sich selbst Verzeihen bevor, so viel die eigene Courage zulässt, erinnert und ausgesprochen ist. In Worte verpackt, die anschließend samt Inhalt zur Seite gelegt werden, aufgeplatzte Verdrängung, transformiert in aus dem Vergessenen quellende, unliebsame Erinnerung.
„Die Dackelmixin von Tante Krimmelbein, einer entfernten Verwandten, hatte Junge bekommen. Eine der Welpen kaufte Gerhard ihr für siebzig Mark ab…“ Mehr Worte schafft die Frau nicht. Die Erinnerung an den jähen und viel zu frühen Tod des Dackels zerreißt ihr noch heute das Herz, das Bild der äußerlich unversehrten Mücke unter dem grünen Ford Combi - für immer eingebrannt.
„Sie wollte mir folgen, war nicht schnell genug. Mit blieb nur, sie tot nach Hause zu tragen, traumatisiert für mein ganzes Leben. Eine Weile zuvor hatte sie fünf Welpen geboren, von denen Gerhard und Dietlinde ihr und uns Kindern zwei ließen. Lolek und Bolek. Das Geheimnis, was mit den anderen geschehen ist, hat Gerhard mit ins Grab genommen.“
„Du zerfleischst dich mit diesen Bildern, warum tust du das?“ Die Mondgöttin rollt sich in den Daunen auf die andere Seite und gibt sich erwachsen, aufmerksam und geduldig.
„Sie, die alle ich so sehr liebte, sollen, bevor ich sterbe, ihr Denkmal haben. Symbolisch, verstehst du?“
„Warum glaubst du, ich müsste das verstehen? Niemand muss das verstehen. Es ist in Ordnung, wenn du das für dich so willst.“ Die graue Mixin macht eine Art Kunstpause, kratzt sich kräftig mit der Hinterpfote am Hals und fügt hinzu, dass es sie überhaupt nicht wundere, dass diese Gedanken jetzt, im ersten Jahr nach dem Tod ihres Vaters auftauchen. Ihr Thema sei Abschied und Trauer, und da schwappe schon mal Verdrängtes ins Bewusstsein.
Die Mondgöttin schaut die Frau ein wenig überheblich aus ihren mandelförmigen Augen an. Die schiebt das Bild des toten Dackels beiseite und stolpert über das der Nachfolgerin, gleichfalls Mücke mit Namen. Eine Langhaardackelin, erstanden am Tag nach dem Unglück im münsterländischen Ahaus. Dietlinde hatte den Züchter über eine Kleinanzeige in der Rubrik „Tiermarkt“ gefunden, das Internet gab es noch lange nicht. Auf diese folgte mindestens eine weitere Dackelin. Die Frau schämt sich, nicht zu wissen, ob es am Ende zwei oder drei gewesen sind, verwehrt sich aber weiterer Nachforschungen, um so schnell wie möglich „In Memoriam“ zu beenden, und sei es um den Preis, am Ende mit dem Flickwerk aus stumpfen Facetten unzufrieden zu sein.
Wen es noch gab, will die Mixin wissen. Will sie das wirklich? Wahrscheinlich dient die Frage eher dazu, die Gesellin davon abzuhalten, den eingeschlagenen Erzählstrang fluchtartig zu verlassen. So rappelt sie in skizzenhafter Knappheit Stationen ihres Lebens herunter.
„Neunzehnhundertvierundsiebzig, kurz nachdem wir in das neue Haus eingezogen sind, kam Angie, eine Deutsch Kurzhaar Hündin in unsere Familie. Ein Jahr später mein erstes und ausschließlich für mich bestimmtes Pferd, Margot. Mit Eintritt ins Studentenleben verkaufte ich sie an den Bauern, bei dem sie seinerzeit eingestellt war. Angie, die Hündin, starb, an Demenz erkrankt, durch einen Gnadenschuss Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre. Sie ist acht oder neun Jahre alt geworden. Die Haflingerstute wurde mindestens dreißig, sie hatte ein gutes Leben unter Apfelbäumen. Sie auf dem Hof zu besuchen, habe ich emotional nie geschafft.“
Innzwischen ist die Mixin aufgestanden, läuft im Zimmer herum, springt mit den Vorderpfoten auf den Schoß der Frau:
„Kannst du dir vorstellen, dass du deine Schildkröten, Hamster, den Vogel und das Pferd, in der jeweiligen Lebensphase so gut versorgt hast, wie es dir damals möglich war? Du warst ein Kind! Du legst heutige Maßstäbe an und beschwörst einen ganzen Haufen Schuldgefühle regelrecht herbei. Du machst dir Vorwürfe, aber du kannst die Vergangenheit nicht ändern. Finde dich damit ab, dass nichts perfekt gelaufen ist.“
Die Schuldgefühle wurzeln zu einem guten Teil in dem Umstand, dass sie keine der ihr anvertrauten Seelen in den Tod begleitet, sondern sich stattdessen aus der Verantwortung gestohlen, die Begleitung anderen überlassen hat.
Als die Frau bemerkt, dass die Mondgöttin sich in ein anderes Zimmer auf ihre eigene Decke verfügt hat, fühlt sie sich einen Moment lang im Stich gelassen. Sie beobachtet, wie die Hündin in der Phase des Einschlafens mit den Lidern zuckt und mit den Ohren, während sie durch ihre Geschichte hetzt, kaltschweißig, kurzatmig, tachykard in dem verzweifelten Versuch, sich mit Worten reinzuwaschen von echter oder vermeintliche Schuld. Wer will hier richten?
„Filou kam neunzehnhundertneunzig zur Welt und sprang drei Jahre später in mein Herz. Mein Schatz, ich sage dir, ich war so verliebt in den wie in dich. Ein dunkelbrauner Wallach, der im späten zweitausendundneun wegen einer schweren Knieverletzung eingeschläfert werden musste. Er verbrachte seinen Lebensabend auf einer Weide im Bergischen Land, wurde neunzehn Jahre alt.“ Die Frau hat sich seinerzeit die Entscheidung leichtgemacht, als sie ihn auf dem Hof im Bergischen Land gut aufgehoben wusste und sich so den Abschied, den sie am meisten fürchtete, ersparen konnte.
Sie wird fahrig im zermürbenden Erinnern, im Denken, im Schreiben und Reden, was kaum auszuhalten ist. Sie entschließt sich, einzelne Vergangenheitssplitter unumstößlich ihrem zweiten Ich zu überantworten. Um nicht restlos über sich selbst zu verzweifeln, scheint es ihr geboten, sie psychohygienisch in der Ecke der Verdrängung zu lassen.
Zwanzigelf gab es den kleinen Mischling Mato, der über den Tod von Rufus‘ Colli Ben im Sommer hinweghelfen sollte. Er stammte aus dem Tierschutz, zeigte rasch heftigste Allergien, kratzte sich, bis die Haut blutete. Dazu kam eine schwere psychische Krise der Frau, so dass Rufus ein neues zu Hause für den Hund finden musste. Mato ist in eine gute Familie gekommen, trotzdem fühlt sie sich schuldig. Letztlich hat ihre katastrophale psychische Verfassung zum Drama um Mato geführt. Und ein gutes halbes Jahr später zu dem Drama um Mogli.
„Wer ist denn Mogli?“ Die Mixin ist inzwischen aufgewacht und möchte ein Stück Banane.
„Der war vor dir da, im Sommer zwanzigzwölf, ein hübscher Berner Sennhund Mix, ein paar Monate alt. Er kam nach wenigen Tagen ins Tierheim. Bitte frage mich nicht warum.“ Die Frau schluckt. Wohin mit der Erinnerung an diesen Verrat?
„Das warst nicht du, die ihn weggegeben hat,“ sagt die Mondgöttin, schaut die Frau ebenso entsetzt wie ungläubig an, als hätte sie Angst, dass ihr ein ähnliches Schicksal wiederfahren könnte, was natürlich absurd ist.
„Dann kamst du.“ Die Menschin und fährt den PC herunter. Erfolgreich bekämpft sie den Impuls, die Geschichte zu löschen. Als ginge es um ihr Leben, will sie behalten, was gewesen ist. Sie fürchtet sich vor einem Terror der toten Tiere, der vergangen Zeit in ihrem Kopf, löschte sie alles, statt nur zu feilen, vielleicht und irgendwann.
Während eines Spazierganges in goldenem Spätsommerwetter murmelt die Mixin am nächsten Tag beiläufig, sie habe den Eindruck, ihre Gefährtin beklage neben dem Verlust der Seelen in ihrer jeweiligen Individualität vor allem die Bewusstwerdung von Vergänglichkeit, des Verrinnens von Zeit, von Lebenszeit.
„Dein Thema ist Vergänglichkeit. Nicht Schuld“, sagt Mondgöttin, „vielleicht entlastet dich ja der Gedanke?“
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Ellen (Mittwoch, 24 Januar 2024 21:13)
Hallo Mensch mit Mondgöttin,
solch ähnliche Erinnerungen an Fehlverhalten gegenüber grundguten Vierbeinern quälen mich auch. Vor allem drei schöne Hundeseelen waren einst von mir betroffen.
Hoffe, Sie landen im Hundehimmel. Und können mir vergeben. Jesus hat es ohnehin getan. Das ist ein bisschen Trost.
Alle Liebe wünscht Euch
Ln