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Fragment_3

Fragmente_3 Rubikon

 

Rückblick: Marlene, fünfzig, im Winter zwanzigelf. Psychiatrie, evangelisches Krankenhaus: Die taffe Marlene, promovierte Literaturwissenschaftlerin, hockt in der Qualmbude zwischen Typen, bei denen nicht nur sie sicher ist, dass sie draußen keine Chance mehr haben. Versagen und Verlorenheit wabern im dichten Zigarettenrauch. Nullpunkt, für sie und diese Figuren, die von Harz IV leben und betreut Wohnen, die sich, kaum dass sie die Klinik verlassen haben, die Pulle an den Hals setzen, um drei Tage später wieder hier aufzukreuzen. Das Radio dudelt von früh bis spät, ich hab so viel gehört und doch kommt’s niemals bei mir an...

 

Marlene erinnert sich, dass Hirtberg in einer der letzten Stunden sagte „... wir machen das alle ein bisschen so, wir gehen aus Beziehung ´raus, bevor der andere es tut, wir springen aus dem Fenster, weil wir Angst vor dem Tod haben. Sie wollen etwas beenden, ´raus aus der Sache, weil sie unsicher ist.“ Der Kontext, in dem er das sage, ist ihr entfallen. Passt aber auf alles. In regelmäßigen Abständen steigt Marlene aus irgendwas aus.

Rufus und Marlene sind seit drei Jahren verheiratet. Das hindert Marlene jedoch nicht, ohne großes Federlesen mit Detrich anzubandeln, der immerhin über eine umwerfende Attraktivität verfügt. Gleich in eines der ersten Gespräche mit eben diesem glutäugigen Womanizer mischt sich völlig unerwartet Hirtberg ein, den sie hier und jetzt als weniger willkommenen Zensor erlebt: „Frau Thieme, sie lärmen und toben und schlagen alles entzwei. Bleiben Sie doch mal dran, sie haben sich ein hübsches Türmchen gebaut, das wackelt zwar noch ein bisschen, aber da haben sie ihn doch, den Boden, der trägt.“

 

„Nichts trägt, Hirtberg.“

Die Essecke am Ende des Flures hat sie zu ihrer Malecke deklariert. Abgesehen von dem schizoiden Herrn Brand hält sich hier jenseits der Mahlzeiten nie jemand auf. Herr Brand rückt jeden Abend den Jesus in der Kapelle zurecht und stellt einen Sender für klassische Musik im Radio ein. Seine Mahlzeiten nimmt er mit Marlene ein. Normalerweise spricht er nicht. In der Qualmbude hockt er am Rande und schweigt, stundenlang, tagelang. Mit Marlene indes spricht er über seinen gesetzlichen Betreuer und seinen dringenden Wunsch, sowohl diesen als auch das betreuten Wohnen los zu werden. Das Essen ist recht gut in diesem Laden. Die Küchenfee, eine herbe, blasse Dame mit aschblondem Haar und einem Kittel, der ihre Farblosigkeit aufnimmt, nimmt die Bestellung für die nächsten Tage auf.

Rufus kommt kurz auf der Station vorbei, als Marlene in ihrem Salat herumstochert. Er trägt eine weisse Latzhose für Maler, die über dem Bauch etwas spannt und verkleckste Arbeitsschuhe.

 

„Am Wochenende habe ich Nachtbelastung.“

„Was heißt das?“

„Dass ich für zwei Tage im Atelier bin und dann wieder hierher komme. Man wird frühestens in vierzehn Tagen entscheiden, wann die Entlassung ansteht.“

„Warum erst in vierzehn Tagen?“

Statt einer Antwort erzählt sie ihm, was sie auch den Ärzten erzählt hat, dass nämlich sie sich nicht stabil genug fühle, um in die Alltäglichkeit zurückzugehen. In Wahrheit geht es Marlene um Zeit für sich ganz allein, ohne Rufus. Doch jetzt, wie er ihr gegenübersitzt, nimmt er sie wieder für sich ein. Die Brutalität seiner Anwürfe relativiert sich zu einer sachlichen Klarheit seiner Gedanken. Nicht ihrer.

„Du kannst nur du selbst sein“, sagte er zum x-ten Mal und lehnt sich auf dem Holzstuhl nach hinten. Vergiss das Therapeutische Reiten, vergiss die Arbeit im Stall, dafür bist du nicht gemacht.“

Sagt das der Mann, der sie so engagiert unterstützte in der Realisation dessen, was sie wirklich will? Ein Fähnchen im Wind, dieser Kerl.

„Immerhin: zu wissen, was ich nicht will, ist doch schon mal was.“

„Marli, du hast dich am Ende in Mistbergen und sozialen Gegebenheiten verloren, mit denen du nicht umgehen kannst. Menschen sind nix für dich. Du bist antipathisch. Doch in deiner ganzen Antipathie kannst du hingucken, beobachten und beschreiben, darin bist du genial.“ Beinahe täglich ermuntert er sie, Schriftstellerin zu sein.

„Damit verdiene ich kein Geld. Um unabhängig zu sein, brauche ich Geld. Ich kann und will mich nicht auf einen Mann verlassen…“, zumal die Beziehung nicht rund läuft. Jetzt, wo sie im Krankenhaus ist, geht es. Man stört einander nicht. Er schreibt e-Mails zwischen Liebe und Verachtung.

Rufus hat ihre Kreativität wachsen lassen, ebenso allerdings ihre wirtschaftliche Abhängigkeit. Dächte sie nicht so extrem schwarz weiß, zöge sie nicht gleich die Trennung in Erwägung. Statt dessen würde sie überlegen, wie sie Unabhängigkeit trotz Zusammenleben, im Dranbleiben zurückerlangen kann.

 

Ein paar Tage später hat er etwas Zeit mitgebracht. Marlene erwartet ihn auf dem Zimmer, hat sich die Nägel knallrot lackiert. Alle zwanzig. Sie drückt mit dem Nagel des Daumens auf den der kleinen Fingers: keine Riefe, also trocken.

„Lass uns in die Cafeteria gehen, gibt wunderbaren Beerdigungskuchen.“ Es ist später Nachmittag, Novemberdunkel verhängt das Fenster.

„Meinetwegen. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Wie geht es Dir?“

„Es geht so. Körperlich ist alles in Ordnung.“

Die Cafeteria ist spärlich besetzt, adventlich hergerichtet, auf den Tischen stehen Schälchen mit Vanillekipferln und Nussherzen, eine Aufmerksamkeit des Hauses. Rufus bestellt frische Waffeln mit Sahne. Ohne Eis. Marlene desgleichen. Der Form halber. Sie wird sie nicht essen. Rufus steigt unvermittelt ins Gespräch.

„Marli, schreibe endlich deine Geschichten, mache dir einen Plan und arbeite deine Themen und Texte ab. Hier hast du doch genug Zeit“, sagt er und rührt in seinem Cappuccino.

„Du kannst nur die sein, die du bist, hör´ endlich auf mit deinen Vorstellungen davon, wie du zu sein hast oder was du vielleicht sein könntest.“

„Deine Art zu sein kannst du nicht eins zu eins auf mich applizieren, Rufus. Neben dir zu existieren, ist schon Herausforderung genug, du bist dominant, du weißt, was du willst und tust es. Du kannst das: mit Unwägbarkeiten leben. Ich kann das nicht, ich brauche Sicherheit, und die resultiert zu einem guten Teil aus wirtschaftlicher Unabhängigkeit, die ich eh schon fast verloren habe. Aufgegeben habe. Wenn ich einfach das zu tun versuche, was du dir für mich vorstellst, werde ich eines Tages völlig mittellos sein. So viel zum Stichwort Vorstellungen.“

Ihre panischen Phantasie nimmt vorweg, was bald der Fall sein sollte: Sprung aus dem Fenster. Die Bedienung bringt die Waffeln, womit das Thema einen raschen Wechsel erfährt.

„Gehst du am Samstag mit mir auf den Weihnachtsmarkt?“ fragt Rufus und guckt Marlene aus seinen grünen Augen an. So eine elegante, ganz einfache Frage! Sie stellt sich vor, wie das sein wird: fröhlich, ganz normal. „Wir werden Pilze essen und ein paar Kleinigkeiten kaufen... ja, ich komme mit.“ Nach einigen Sekunden des Zögerns: „Gerne.“

„Neue Wanderschuhe brauchst du, warme Schuhe. Du wirst in der Reha viel laufen.“

Die krude Mischung seiner Fürsorglichkeit und dem Bild, in Begleitung von Detrich in den Weinbergen zu spazieren, lässt sie erschaudern. Ob vor Entsetzen oder vor Freude bleibt unklar, mit Tendenz zur Abscheu. Vielleicht liegt dort Schnee. Weihnachten und Sylvester: Wie wird das ohne Rufus?

 

Das letzte Krankenhauswochenende verbringt Marlene auf ärztliche Verordnung im Atelier. Nach einigem hin und her, verpackt in völlig bescheuerte sms, holt Rufus sie ab. Es sah zwischenzeitlich nicht mehr danach aus.

Beim Betreten des Ateliers spürt sie sein zu Hause, Gemütlichkeit. Seine Krebshöhle. Das Feuer im Ofen lodert, auf dem Tisch ein Adventskranz, ein Stollen und Christsterne. Matos Ecke ist verwaist. Marlene schreit in sich hinein. Dieser Egoist hat den kleinen Hund abgegeben, weil er sich nicht so kümmern konnte, wie es notwendig gewesen wäre angesichts dessen Allergie, die er gegen die Stoffe im Atelier entwickelt hat. Rufus bemerkt ihren Blick.

„Der Tierarzt hat so gut es ging geholfen und schließlich eine Familie gefunden, die den kleinen Kerl aufgenommen hat.“ Rufus zündet noch ein paar Kerzen an, Marlene macht gute Mine zum bösen Spiel, von dem niemand weiß, wie es ausgeht.

„Wäre ich nur nicht im Krankenhaus… Ich hätte ihn gesund gepflegt.“ Trauer und Enttäuschung fügen sich zu Unbeschreiblichem zusammen, dies um so verwirrender, als die Distanz der letzten Wochen mit jeder Minute schrumpft.

„Bei dir ist das jetzt so, dass innen und außen kongruent sind. Deckungsgleich: Deine ganze Negativität, deine Menschenverachtung, deine innere Destruktivität korrespondiert mit dem Außen.“

Er schleudert ihr die Worte brutal vor die Füße. Rufus definiert, wer, was und wie Marlene ist. Einen Augenblick lang fahndet sie in ihrem Inneren.

„Ja. Ich bin authentisch in diesem biographischen Nullpunkt. Ich bin, wie ich bin. Nackt.“

Zu der Zeit war Marlene nicht klar, was nackt in diesem übertragenen Sinne wirklich bedeutet. Sie ahnt nicht, dass ein halbes Jahr später sie noch nackter sein sollte. Wenn hier vom Nullpunkt die Rede ist, trifft das nur bedingt zu: noch lebt sie in einer Partnerschaft, obwohl diese ihrem Scheitern entgegen dümpelte. Noch ist sie Angestellte der Organisation und hat die Option, sich trotz geringer Chancen  - Literatur ist wenig gefragt  - woanders zu bewerben. Noch hat sie einen Führerschein und ein Auto, wenn auch nicht das, was sie selbst sich ausgesucht und gekauft hat. Warum hat sie zugelassen, dass Rufus ihren Golf verkauft? Noch hat sie einen Geliebten, der sein letzte Hemd für sie geben würde.

Der Nullpunkt betrifft das von Rufus immer wieder ins Feld geführte Lebensmotiv, an dem es Marlene von jeher gebricht.

„Was genau meinst du mit ‚Motiv‘? Es gibt Menschen, die haben kein Motiv. Frag‘ doch mal deine Angestellten, Christopher, Josef oder Franz, nach ihrem ´Motiv´. Was glaubst du, was da kommt?“

Statt konkret zu antworten, findet er das Gute dieser Nullpunktsituation.

„Endlich bist du ohne diese ganzen Vorstellungen und Ideen davon, was oder wer du sein müsstest. Du bist einfach du.“

Zusammen mit Rufus und Marlene sitzt Unaufgeregtheit am adventlichen Tisch, es riecht nach Tanne, Brennholz und Bienenwachs. Marlene umfängt ein tiefes Gefühl von Geschlossenheit, und das angesichts einer Situation, die an jenem Samstagnachmittag hoffnungslos erscheint. Sie taumelt in Wogen von Schuld, Scham und Respekt: Rufus ist ein Meister des klar Hinsehens und der scharfen Beschreibung.

 

Grenzüberschreitung.

Rubikon.

 

„Und sie haben das Hemd abgelehnt, Frau Thieme?“ Drei Jahre später steht Hirtberg plötzlich im Bahnhofsbistro von Klosterfelde hinter ihrem Hocker an der Bar. Sie hat ihn nicht erwartet und erschrickt beinahe zu Tode.

„Wo kommen sie denn so plötzlich her?“ Er wird die Frage nicht beantworten. Marlene versucht ihre Nervosität zu verbergen. Vier Jahre lang gab es nur einen Ort: seine Praxis. Drei Jahre später finden die Gespräche in ihrem Kopf statt, vor brandenburgischer Kulisse. Die gestromte Mondgöttin ist immer dabei.

Das Bistro am Bahnhof bietet die einzige Gelegenheit, einen Café außerhalb der eigenen vier Wände trinken kann. Möglich wäre noch auf der Bank vor dem Netto, mit einem Becher Café to Go vom Bäcker und Blick auf den überdimensionierten Parkplatz, die Feuerwache und einen Blumenladen, der vor einigen Monaten Pleite gegangen ist. Das Bistro versetzt den Gast zurück in die Ära Honecker. In Ausstattung und Einrichtung verfügt dieser Ort über den speziellen Charme des Sozialismus.

Hirtberg bleibt dran, will wissen was es mit dem Liebhaber auf sich hat, ob Rufus davon wusste.

„Nein, natürlich wusste er es erst mal nicht. Detrich und ich sind uns in der Psychiatrie begegnet. Er war kein typischer Säufer, ja, ich gehe so weit zu sagen, dass er ebenso wenig abhängig war wie ich.“

„Das müssen sie mir genauer erklären. Sind sie nun abhängig oder sind sie es nicht?“

„Später. Bleiben wir einen Moment bei Detrich, dann habe ich es hinter mir.“

Marlene erinnert sich ungern an diese Geschichte, die zu einem der Sargnägel der Ehe mit Rufus wurde. Sie schaut sich kurz um, ob jemand zuhört, gar beobachtet. Ein paar Kerle stehen am Tresen und konzentrieren sich auf ihr Bier. Auf dem Fußboden liegt ein Hund, groß wie eine Kuh.

„Noch im Krankenhaus war klar, dass eine Reha unverzichtbar war. Ich entschied mich für eine achtwöchige Entwöhnungstherapie in Tönisstein, der Typ desgleichen.“

„Und so haben sie beide sich also in der Kur wieder gesehen?“

„Ja. Nach wenigen Tagen war ich ihn leid, er klebte an mir und glaubte an die ewige Liebe. Mit mir!? Das war zu viel. Ich hatte Widerwillen, mich mit ihm zu beschäftigen, ich wollte frei sein, mein eigenes Ding machen und herausfinden, was mit Rufus noch möglich war. Ob überhaupt.“

 

So plötzlich Hirtberg erscheinen war, so schnell ist er auch wieder weg. Ein wenig verloren sieht Marlene sich um in diesem Schuppen, der sie in seiner schrömmeligen Provinzialität nicht minder berührt als beim ersten Besuch. Spießiges, abgeschubbertes Mobiliar, an der Stirnwand ein Fernseher, Sportsendungen und Werbung. Reminiszenzen an die ehemalige DDR und deren ideologische Nähe zur Sowjetunion in Form von Straßenschildern, Propagandaplakaten, Emaillereklame, Grenzwarnungen, Sperrzone, Deutsche Flagge mit Hammer und Sichel.

 

 

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