Ein matter Morgen im Juni, ganz ohne Wetter. Eintöniger Himmel, kein Regen, keine Sonne, kein Wind, kein Nebel. Mehr als zweiundzwanzig Grand sind knapp nach Pfingsten kaum drin. Die rechte Küchenwand ziert ein riesiger Zodiac: weiße Symbole, gepinselt auf milchig-fliederfarbenen Grund. Das Miniradio für sechzehnfünfundneunzig beim Onlineversandhandel dudelt Trying not to love you von Nickelback (zweitausendzwölf). Der Heilige Geist hat ein Einsehen, kommt auf mich hernieder und schlägt vor, mit Hirtberg zu sprechen. Ein wenig verlegen berichte ich von meinem heimlichen Wunsch, über die Jahre seit Erscheinen von Reiz und Elend zu schreiben.
„Warum fangen sie sie nicht einfach mit etwas ganz Neuem an?“ Er sitzt hinter mir in meinem einzigen Sessel, ich liege in Ermangelung einer Couch auf meiner pinken Gymnastikmatte unter dem fliedernen Zodiac.
„Wie meinen sie das? Einfach mit etwas ganz Neuem anfangen?“
„So wie ich es sage. Sachlich. Wertfrei. Ich möchte sie ermuntern, ein wirklich neues Projekt zu starten. Wenn ich sie richtig verstanden habe, sind sie doch auch in einem ganz neuen Leben angekommen.“
Warum führt er mir so deutlich vor Augen, dass ich mein altes Leben gründlich zerstört hatte? Dieses bequeme Leben, mit Rufus, Job, Atelier, Hund, Freiheiten und Perspektiven. Ich verrenke mir den Hals, um Hirtberg beim Warten auf meine Antwort zuzuschauen. Pokerface.
„Die Fortsetzung von Reiz und Elend kann nur irgendwas Onliniges sein, ein Blog vielleicht, mit Fotos und Videos bei YouTube…“ Vielleicht Szenen wie diese: Luna schnappt nach den in rascher Folge aus der Regenrinne fallenden Tropfen. Ihre spitzen Welpenzähne schlagen aufeinander. Könnte sie juchzen, täte sie es. Vor Lebensfreude. Hier und jetzt. Auf diesem stillen, spärlich beleuchteten Hof, dieser Oase in der sandigen Wildnis Brandenburgs. Dieser Ort hat auf uns gewartet.
„Ich habe keine Ahnung von YouTube, wie geht das technisch überhaupt? Das fängt bei der Wahl der Kamera an und hört wahrscheinlich nie auf.“
„Das wäre auf jeden Fall etwas Neues, das mit ihrem früheren Leben nichts zu tun hat, solange sie sich nicht immer wieder umschauen und die letzten Jahre aufzuarbeiten versuchen.“ Hirtberg scheint sich daran zu stören, dass ich schlecht loslassen kann und setzt nach: „Warum lassen sie die letzten Jahre nicht sein, was sie sind: der Übergang von einem Leben in ein anderes, mit allen Schwierigkeiten, Erfahrungen und dem einen oder anderen Glücks- oder zumindest Dankbarkeitsgefühl.“
Danke, für diesen neuen Morgen, danke für jeden neuen Tag, Danke… Das Lied und mit ihm das Bild vom Morgengruß in der Senioren Residenz kommt mir in den Sinn. Ich erzähle Hirtberg von meinem Praktikum im Altersheim.
„Jeder Tag beginnt dort mit dem gemeinsamen Singen. Bettina teilt die Textkopien aus, alle sind mehr oder weniger dement. Bettina ist Betreuerin. Ein Job, den ich mir für mich vorstellen kann. Ich überlege, eine Umschulung zu beantragen.
„Was wollen sie? Wissen sie, was diese Leute verdienen?“ schnaubt Hirtberg, als sei er persönlich von der Misere in der Pflege betroffen. „Vierzig Stunden müssen sie arbeiten und dann kommen sie in etwa auf den Satz, den sie für die Hälfte der Stunden netto in der Organisation hatten. Hier ist es das Brutto!“
Hirtberg versteht mich nicht. Noch immer reitet er auf der Organisation herum, für die ich arbeitete, bevor mein Türmchen dem Presslufthammer zum Opfer fiel.
Er schweigt. In meinem Kopf nur Watte. Nach einer gefühlten halben Stunde greift er den Faden auf:
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Notizen bis zum Ende bearbeiten, in einer überschaubaren Zeit?“
„Gegenfrage: was verstehen sie unter ‚überschaubarer Zeit‘? Seit Jahren verfertige ich diese verdammten Notizen in dem Ansinnen, ein Buch zu veröffentlichen. Es ist nichts daraus geworden. Teils aus Mangel an Disziplin, teils aus Mangel an Ideen, teils aus Mangel an Zeit. Der Mangel an Disziplin verstärkte sich, je chaotischer mein Leben wurde und je verzweifelter ich darum kämpfte, zu dem zurückzukehren, was mich selbst und meine Lebensführung charakterisierte. Den größten Vorwurf mache ich mir, weil ich auch dann nicht schrieb, als Zeit genug da war.“
„Sie wissen ja, dass Selbstvorwürfe ausgesprochen destruktiv wirken. Warum ist das Schreiben für sie so wichtig? Versprechen sie sich ein Plus an Reputation, wenn sie ein Buch herausgebracht haben?“
„Nein... Schwer zu sagen. In meinem Kopf ist die Idee, die Vorstellung, eine international angesehene Schriftstellerin zu sein.“ Also ob ich mich der Aussage nicht schon genug schämen würde, fasst er noch mal zusammen:
„Es geht ihnen um Erfolg und Ansehen. Für Reiz und Elend hatten sie eine andere Motivation, wenn ich mich recht entsinne. Da ging es darum, einen Teil dessen, was wir hier machen, festzuhalten…“
„Ja, ein guter Teil materialisierte sich im Schreiben, letztlich konnte ich sogar sie mit nach Hause nehmen. Jedenfalls fühlt es sich so an. Deshalb ist das Buch so gut, so authentisch… und doch eine Welt für sich. Eine Geschichte für mich allein.“
Aus der Zeit nach Beendigung der Analyse sind bislang nur Erinnerungsfetzen geblieben, im Computer. Im meinem Kopf ist alles.
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