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Septembermond

Mitte August. Der Ziegenzüchter wirkt halbwegs seriös. Das Nämliche gilt für die Frau. Treffpunkt: eine Tankstelle in Gladbeck. Die Frau stellt sich einen Mann vor, der gleich sein Auto neben ihrem parkt, oder in der Nähe. Wenige Minuten später entdeckt sie eine Gestalt, zu Fuß unterwegs auf der vielspurigen Kreuzung, angetan mit verwaschenem Denim von oben bis unten. Sein graues Haar schulterlang, der Bart desgleichen. Es nicht weit zu dem Ort, an dem die Welpen zu begucken sind. Die Eltern: Wolfsspitzin und Labrador. Auf der benachbarten Weide, eher eine Brache, ein knappes Dutzend Ziegen.

„Sind das ihre Ziegen? Was machen sie mit denen?“

„Die drei Mütter da hinten - er weist in Richtung eins angrenzend Gewerbegebietes - hatten im Frühjahr Nachwuchs, seither melke ich sie und gebe die Milch den Welpen. Das ist das Beste, was man jungen Hunden tun kann!“

 

Fünf Welpen, zehn Wochen alt und gerade von der Mutter getrennt, wuseln durcheinander, begrüßen ausgelassen die Besuche. Der Zwinger ist sauber, in der Mitte zwei oder drei Fressnäpfchen.

„Darf ich da rein?“

Der Ziegenzüchter lächelt und sperrt die Türe auf.

Sie geht in die Hocke. Eines der Welpchen, das Dunkelste, stürzt auf die Frau zu, klettert auf deren linken Oberschenkel, wirft sich mit den Vorderpfoten auf ihre Schulter, wendet geschickt, springt wieder hinunter, rennt zum Näpfchen, sucht Futter, findet nix, kehrt um und klettert wieder. Spitze Zähnchen kitzeln ihr Ohr.

„Das ist die einzige Hündin in dem Wurf. Sie ist schwärzer als ihre vier Brüder, na, sehen sie ja. Hat sie von der Mutter“ erklärt der Ziegenzüchter.

Die Mutter, eine zotteliges Vieh mit schwarz-grau-braunem Fell, kniehoch, breit und kräftig, lebt im Zwinger nebenan, zur anderen Seite der goldfarbene Papa.

 

Die Frau will einen Rüden. Wie Morits. Der ist ein Geschenk ihres Ex-Gatten zu ihrem Geburtstag im Februar. Als der Gatte sich von der Frau trennte, gebrach es ihm an Stil, Fairness und Gerechtigkeit. Im April zweitausendundzwölf verschwindet der Hovawarth-Sennhund-Mix aus ihrem Leben. Besitzer auf dem Papier ist der Ex-Gatte. Bis in den Hochsommer hinein kämpft die Frau vergeblich, es reisst ihr ohnehin geschundenes Herz in Stücke. Und diese quirlige Welpin, die mit ihrem kurzhaarigen Fell an einen Seehund erinnert, sobald sie ihre Rosettenohren flach an den Kopf legt, schmeißt alle Vorstellungen um: schlagartig ist der Frau klar, dass sie kein männliches Wesen mehr in ihrem engeren Umfeld will.

 

Weder geimpft noch gechiped bekommt sie immerhin sofort einen Namen. Am ersten September ist Vollmond.

„Du bist Luna. Meine Mondgöttin“.

Zweihundert Euro soll sie kosten.

„Bitte geben sie sie auf keinen Fall weg, ich möchte genau diese Hündin!“

„Zahlen sie fünfzig an und die Kleine bleibt bis sie sie abholen.“

Die Frau ist misstrauisch. Kann der Ziegenzüchter seine Hunde wirklich auseinanderhalten? Er wird doch wohl nicht zu schusselig sein, die Hündin eben nicht zu verkaufen?

„Gut. Am Samstag in einer Woche hole ich dich, Luna. Bis dahin werde ich alles richten, Futter kaufen, Geschirr und Leine, deine Ankunft vorbereiten“, flüstert die Frau dem Hundekind ins Ohr. Es ist ein bisschen gestromt, am Kopf und an den Rippen.

„Nehmen sie sie noch einmal, ich möchte gern ein Photo machen“, bringt die Frau aufgeregt hervor und drückt dem Ziegenzüchter das Hundemädchen in den Arm.

 

Am ersten September hinterlässt die Frau keinen guten Eindruck, als sie per Taxi aufkreuzt. Drei Stunden zuvor war sie in einer Baustelle von der Fahrbahn abgekommen. Die Reifen links, vorne und hinten, sind platt. Restlos. Es gelingt, auf der rechten Spur zu halten, ohne den fließenden Verkehr über Gebühr zu gefährden. Klüger als sofort den ADAC zu rufen wäre es gewesen, erst mal auszunüchtern. Die gelben Engel laden ihr Auto auf einen Schlepper. Ehe ihrem trunkenen Hirn klar wird, was geschieht, sieht sie den Streifenwagen. Alkotest, Blutprobe auf der Polizeiwache in Bochum, an die sie sich erst Wochen später erinnert, als sie zum x-ten Mal in diesem Jahr zur Entgiftung im Krankenhaus war. Mit dem Taxi nach Gladbeck, zu der inzwischen bekannten Adresse. Die Mondgöttin ist der Frau am Ende ein Plus von einhundertundsechzig Euro wert: so viel kostet der Spaß, der keiner war, inklusive Rückfahrt von Gladbeck nach Herdecke. Nicht eingerechnet alle Folgekosten, Geldstrafen, MPU, Führerschein, das ganze Programm.

 

Am ersten September hinterlässt der Ziegenzüchter gar keinen Eindruck, weil die Frau ihn gar nicht wahrnimmt. Nur diesen Hund, der ihr das Leben retten, sie aus ihrer Verzweiflung und Einsamkeit holen soll. Der Karton, den sie mit Löchern versehen und mit Katzenstreu ausgelegt hatte, befindet sich, nun umgekippt, im Auto auf dem Abschleppwagen. Der Ziegenzüchter findet eine alte Transportbox, schmutzig, voller Spinnweben, Staub und Vogelkacke. Die Frau setzt die Göttin in die Box, schaut sie aus glasigen Augen an:

„Du musst da jetzt durch, Luna.“

Die Frau weiss, dass sie es ist, die „da durch“ muss.

„Später, Süße, mache ich alles wieder gut, versprochen.“

 

An die Rückfahrt kann sie sich, im Gegensatz zu anderen Versatzstücken, bis heute nicht erinnern, das gilt auch für die Ankunft in ihrer Wohnung. Diesen Augenblick, in dem Luna ihr neues zu Hause erstmalig betritt, hat ihr sufftrunkenes Gehirn nicht abgespeichert.

 

Am späten Nachmittag sucht ein Polizeibeamter die Frau in ihrer Wohnung auf. Nüchtern ist sie immer noch nicht. Gleichwohl die Contenance wahrend, bittet sie den Beamten herein.

„Gute Frau, sie wurden am frühen Morgen von einem Nachbarn beobachtet, wie sie beim Zurücksetzen ein anderes Auto touchierten. Haben sie das nicht gemerkt?“

Doch, und das obwohl sie zum Frühstück einen Benzo-Wodka-Cocktail genommen hatte. Ihre Ignoranz bringt ihr eine Anzeige wegen Fahrerflucht ein, wie der Beamte verkündet.

 

Zehn Tage lang erlebt die kleine Göttin den Himmel auf Erden, lernt die Stubenreinheit, schläft im Bett der Frau, bekommt Liebe ohne Ende. Am elften Tag ruft die Frau den Notarzt und lässt sich in die Klinik bringen. Zu viel Medikamente, zu viel Alkohol. Schmerzen hinter dem Brustbein, komplett dehydriert und verstopft erträgt sie ein drei Tage langes Martyrium auf der Geschlossenen Psychiatrie.

Das Schlimmste ist das Geräusch, das Lunas kleine Krallen ununterbrochen auf dem Linoleumboden erzeugen, obwohl sie gar nicht da ist. Demütigend das Betteln um einen weiteren, beruhigenden Tropf krall krall tropf tropf krall krall, tropf tropf krall krall.

Am zweiten Tag in der Klink gelingt es der Frau unter allergrößter psychischer Anstrengung ihre Mutter telefonisch zu bitten, dafür zu sorgen, dass Luna nicht fremdvermittelt wird. Die Frau hat ihre Göttin verlassen, verraten, allein gelassen in der Wohnung, wissend, dass Peter sie befreien und ins Tierheim bringen würde.

 

Entlassung nach sechzehn Tagen. Sie geht mit Sorge: Wird sie es schaffen, diesem hinreißenden Wesen gerecht zu werden? Zusammen mit einer Freundin, die im Besitz eines Führerscheins ist, holt sie Luna am nächsten Tag aus dem Tierheim. Im Rückblick sind die folgenden zwei, drei Wochen der Ausblick in eine nicht allzu ferne Zukunft, voller Zuversicht, Mut und ein bisschen Vertrauen. Doch Anfang Oktober lädt die Mutter der Frau zum Geburtstag, zwei Tage später „wispern die Bilder“ und am Sonntag ist der Dämon zurück. Am Montag lahmt die Mondgöttin, Wachstumsschmerzen, sagt der Tierarzt.

 

Luna wird acht Jahre alt, die Frau lädt mich ein zu frischen Erdbeeren mit Sahne, ihrer Göttin hat Hundekekse gebacken. Wir sitzen im Garten, es ist sehr sonnig, ein lauer Wind spielt mit den Blättern der Robinien. Ich frage die Frau, wie sie damals Ankunft ihres Welpen erlebt hat.

„Meine Erinnerung an diese Zeit ist fragmentarisch. Wie übriggebliebene Puzzleteilchen reihen sich Bilder aneinander, deren chronologische Abfolge variiert. Das ist heute aber auch egal. Was zählt, ist alles ab Dezember zweitausendundzwölf."

 

Der Hund und die Frau sind ein eingespieltes Team, die Bindung zwischen beiden sei enger, als sie zu einem menschlichen Partner sein könnte, erzählt sie, „ich habe mein Wort gehalten.“ Die Frau pickt eine von den Erdbeeren und legt sie auf den niedrigen Tisch. Ein Augenzwinkern reicht, um der Göttin zu signalisieren: „Das ist Deine Erdbeere“.

 

 

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