„Herr Dr. Schneider, sagen Sie, spinnen Sie eigentlich auch Netze?“
„Mein Herr, verstehe ich sie richtig: sie meinen Fischernetze?“
„Ja, ja, die Flut hat sie zerrissen, natürlich, was sonst soll ich meinen, wenn nicht Fischernetze!“
Zum Abendbrot gibt´s Heringsstipp mit Pellkartoffeln. Dr. Schneiders Hände sind vom Weben rot und wund. Er fragt sich verwirrt, wozu überhaupt er die verdammte Aktentasche ins Meer geworfen hat. Der Chef allein ist´s wohl nicht, der ihn treibt. Eine Spinne schleppt sich winterträge über den Resopaltisch. Dr. Schneider betrachtet sie mit Liebel und beschließt, ihr beim Bau einer witterungsbeständigen, ökologisch vertretbaren Unterkunft zu helfen.
Nichtsahnend krabbelt die Krabbe über den Sand und rutscht in eine geöffnete Muschel. Feucht und glitschig. Schicksal, denkt der Seehund und beschnuppert die beiden interessiert. Rasch unterschreibt die Krabbe den Mietvertrag und schließt, vor dem nächsten Atemzug des Seehundes, die Tür der Behausung.
Dr. Schneider blättert geistesabwesend im Mittelinsulaner Tageblatt und besudelt den Tisch mit dem Sud gekochter Krabben und dem, was, zur Freude der Möwen, von selbigen übrig bleibt. Ein schöner Tag, findet der ganze Hafen, das Wasser riecht so frisch! Während der Hafen zufrieden und still vor sich hin hafelt, beendet Dr. Schneider seine ihn intellektuell unterfordernde Lektüre und wendet sich der Spinne, der Muschel und der Krabbe zu.
„Na ihr drei, wollen wir gemeinsam zum Strand?“ Der Seehund murrt eifersüchtig. Dr. Schneider greift zu einem seiner just gewebten Netze, wobei das raue Material seine geschundenen Hände beleidigt. Er hilft seinen Freunden beim Einsteigen. Die Muschel schließt sich eilig: der Gedanke, ihr Inneres dem kühlen Wind auszusetzen, vertreibt das Kribbeln, das die Krabbe ausgelöst hatte. Doch kaum am Wasser, ist sie in ihrem Element und tollt ausgelassen mit der Krabbe in der Gischt, die eine bewegte Linie auf den nassen Sand zaubert, über welche die Spinne, ermattet vom gemeinschaftlichen Weben, dem Horizont entgegen balanciert. Dr. Schneider und der Seehund teilen sich einen grünen Hering.
Nichtsahnend nähert sich Jan, der Krabbenfischer, dem Grüppchen. Er stolpert über Dr. Schneiders Gummistiefel, wobei der Seehund ihm, noch im Fallen, geschickt die Brieftasche entwendet und zugleich den ganzen Hering verschlingt. Jan rappelt sich auf und kippt den Rum, von dem er stets einen Flachmann bei sich trägt, in seinen Schlund.
Die Marktfrau greift sich unter den Faltenrock um sich zu vergewissern, dass alles am rechten Platz sei. Eine ganze Armada von frischen Schollen, Seeteufeln und Steinbeissern folgt aufmerksam und mit neugierigem Blick ihrem Treiben. Dr. Schneider, dessen Vorliebe für gut gebaute Marktfrauen legendär ist, überläuft ein wohliger Schauer. Spendabel offeriert er der Marktfrau eine Tasse Tee, worauf hin sie ihren Unterrock glattstreicht und ihm jovial auf die Schulter klopft. Die Muschel indes wird vor Lebensfreude in ihrer Schale verrückt.
Die Krabbe tritt eine unfreiwillige Luftreise mit Möwe Nr. 216 an. Der Seehund zahlt einhundertdreiundneunzig Euro bei der Postbank ein, womit er für den Winter versorgt ist. Der zuständige Sachbearbeiter stellt keine Fragen. Der Wind im Hafen ist frisch und die Luft riecht nach fischiger Marktfrau. Die Krabben backen Weihnachtsplätzchen.
Angesichts der backenden Krabbe speit der Seehund den Hering im hohen Bogen wieder aus und robbt schleunigst zurück zum Strand, wo er auf Dr. Schneider, die Marktfrau und den Krabbenfischer Jan trifft, der ihn unvermittelt fragt, wo die verdammte Krabbe sei.
„Sie buk und flog sodann mit Nr. 216 hinfort“ japst der Seehund und bedauert die Muschel, die gemeinsam mit der Spinne auf Dr. Schneider wartet. Der knutscht die Marktfrau, die nach Meeresflechten schmeckt. Jan pfeift scharf, worauf hin Nr. 216 pflichtschuldig am Horizont erscheint. Die Krabbe klammert sich, mit angstweiten Augen, in das ölverschmierte Gefieder der Möwe: weit draußen hatten sie auf einem sinkenden Tanker gespielt. Die Muschel beschließt, nicht länger zu darben und reitet auf der Spinne zum Strand, wo sie auf die Krabbe, die Marktfrau, den Seehund, die Möwe, Jan und Dr. Schneider stößt. Der Weber rammt sein Knie zwischen die Schenkel der Marktfrau. Die Muschel stirbt beim Schrei derselben, die Krabbe tut es ihr gleich. Jan turtelt besoffen mit der Möwe, der Seehund beobachtet das bunte Treiben und dankt dem Herrn, dass er kein Vogel ist.
Die Marktfrau verdreht die Augen und erfreut sich des Knies, dass wohlgeformt genau zwischen ihre ausladenden Schenkel passt. Eine Gruppe von Seehunden beobachtet erstaunt das Geschehen. Einer von ihnen fragt den Vorsitzenden, was genau der Weber mit seinem Knie vollziehe und beabsichtige.
„Die Menschen sind seltsam. Ich vermute, dass es sich entweder um eine Art Paarungsritual handelt - oder um eine Form der Nahrungsaufnahme“, referiert Dr. Adelhoff Seehund, der immerhin in Kopenhagen bei Dr. Gräte Fischbein promoviert hatte.
Dr. Schneider missfällt der Geschmack von Meeresflechten im Mund der Marktfrau. Flugs entfernt er sich aus dem Nahbereich der Dame, poliert verlegen seine Brille. Sein Bedarf an weiblicher Bekanntschaft ist für Jahre gedeckt. Nr. 216 hockt gereinigt auf einer Parkbank und liest einen Krimi, der vom hinterhältigen Mord an einem Reeder aus Rotterdam handelt. Jan hatte seinen letzten Rum geopfert, um die Möwe zu putzen, nun stinkt sie wie er. Seine letzten Kröten hatte er zusammengekratzt, um der Marktfrau ein wahrhaft schmutziges Angebot zu unterbreiten, das sie, in Ermangelung anderer Einnahmequellen dankend annimmt. Sie kennt die tranverschmierte, enge Kajüte des Krabbenkutters, liebt die romantische Atmosphäre zwischen alten, schwarzen Lappen aus dem Maschinenraum und der öligen Decke, die seit zwanzig Jahren nicht gewaschen ward.
Der Seehund beaufsichtigt den Marktstand, während eine Reihe von Muscheln die Seebestattung ihrer Tante vorbereiten. Der Krabbenchor übt das unvergleichliche „Oh, du alte Schwemme“ für die Feierlichkeiten.
Dr. Schneider füllt seine Gummistiefel mit Einsamkeit, die Marktfrau fühlt sich geliebt, während Jan das Gefühl der Leere nicht verleugnen kann. Der Kutter dümpelt im Wind und der Hafen seufzt zufrieden. Samstagabend.
Einige Monate später bringt die Marktfrau ein Seepferd zur Welt. Erstaunlicherweise stinkt dieses weniger intensiv nach Meeresfrüchten als sie selbst. Jan, so trunken er auch durch die Hafenwelt wankt, wird schlagartig klar, dass das Seepferd unmöglich Resultat seiner ölverschmierten Bemühungen sein konnte, was ihm aber auch scheißegal ist: ob Sepia oder Seehund, an Nachkommen hat er kein Interesse. Nicht genug, denkt er, dass sie Dr. Schneiders Knie ritt, nein, hier muss Dr. Adelhoff Seehund seine Finger - oder was auch immer - im Spiel haben: die Alte steht auf Akademiker. Nr. 216, deren Gefieder in neuem Glanze erstrahlt, lässt sich in Rabenmanier auf Jans Schulter nieder und zwitschert ihm, das Kleine ward auf den Namen Pegasa getauft. Mit geweihtem Seewasser.
Im Hafen geht die Kunde, dass Dr. Schneider sie - es handelte sich um eine Stute - zu sich nehmen will, da die Marktfrau kaum in der Lage sei, die Kleine adäquat aufwachsen zu lassen. Die paar Kröten, die sie auf dem Markt verdient, reichen kaum für sie allein. Dr. Schneider indes sehnt sich nach neuer Gesellschaft, nachdem die Krabbe und die Muschel ihn verlassen hatten. Seine Trauer war tief, doch nun ist´s denn auch genug. Gut, ihm bleiben die Spinne und der Seehund, doch das war ihm, dem Geselligen, nicht genug. Des Webens müde macht er sich auf den Weg, findet die Marktfrau in deren beengtem Bad, wo sie das Seepferdchen in einem hölzernen Zuber wäscht.
„Warum bringst du es nicht ins Meer?" fragt er, entsetzt ob so viel geballter Kurzsichtigkeit. „Pegasa muss ins Meer, du dumme Kuh, gib´ sie her, ich sorge für sie.“
Die geile Alte verlangt als Gegenleistung, nach dem Knie, und Herr Dr. Schneider lässt sich zu seiner eigenen Überraschung alsbald zu mehr hinreißen. Zunftgemäß webt er sich kunstfertig in sie hinein, obschon sie wie immer nach gammeligem Fisch riecht. Zur Ablenkung denkt er an die Muschel und bedauert deren Flucht ins Reich des Hades
Als er mit Pegasa heim kommt, warten der Seehund und die Spinne auf der Treppe, führen einen Freudentanz auf, als Dr. Schneider die Kleine in das vorbereitete Plastikwännchen setzt, wo es begeistert mit den Quappen spielt, die der Seehund in Schneiders Abwesenheit vorausschauend hineingeworfen hatte. Dass die alle tot sind, stört Pegasa nicht.
Mittlerweile sind alle Tiere der Insel mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Die Seehunde kehren ihre Sandbänke und lesen Weihnachtsgeschichten vor, in denen oft von frischem Fisch die Rede ist. Die Krabben lassen sich von den Kutterfischern fangen, um auf einem Weihnachtsteller zu landen, die Muscheln reisen in hölzernen Kisten in Richtung diverser Feinschmeckerlokale auf dem Festland und fühlen sich geehrt, gegessen zu werden.
Pegasa wird zur Attraktion des Kieler Aquariums: ein Seepferd, das über eine hervorragende Kenntnis moderner nautischer Literatur verfügt! Dr. Schneider pflegt seine geliebte Einsamkeit, unternimmt allenfalls kleinere Raubzüge mit dem Seehund. Dieser kauft sich später vom Ersparten ein eigenes Aquarium, Fischleasing inklusive. Die Marktfrau schreibt ihre Memoiren, Vom Doktor zum Seepferd. Mit ISBN Nummer. Völlig unerwartet geraten diese zum Bestseller, was ihr den Einbau eines eigenen Badezimmers und dessen Ausstattung mit Frotteetüchern, Duschgel und Badesalz ermöglicht.
Der Hafen erwartet das Christkind im Weihnachtskutter, Kerzen leuchten wie die Augen der Kinder, alles Glück der Erde schwimmt in den Wogen der Nordsee.
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Tester 1 (Samstag, 23 Mai 2020 11:53)
Und wie geht das hier jetzt weiter?
Tester 2 (Samstag, 23 Mai 2020 11:54)
Ich würde gern wissen, wie die Geschichte weitergeht.